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Die „Anstrengungsverweigerung“ meiner Kinder geistert immer noch in meinem Kopf herum, auch wenn wir damit inzwischen einen guten Umgang gefunden haben und Maxim und Nadeschda in vielfältiger Weise auf einem Weg der Heilung sind. So habe ich mich in den vergangenen Tagen noch einmal mit den Ursachen und Wegen des Umgangs beschäftigt, die bei mir an der ein oder anderen Stelle zu kleinen Lichtblicken und Erkenntnissen geführt haben.
Doch zunächst an dieser Stelle noch einmal ein paar Worte zu den Ursachen der „Anstrengungsverweigerung“ bei Adoptivkindern. Nach Bettina Bonus gibt es eine Mischung an Entwicklungen und Erfahrungen, die zu einer Anstrengungsverweigerung führen, die mir bei genauerer Betrachtung mehr als einleuchtend sind. Würde ich durch diese schmerzliche Erfahrungen gehen müssen, durch die meine Kinder – so wie viele Adoptivkinder – gegangen sind, dann fehlte auch mir die Lebenskraft.
Die qua Natur mitgebrachten Fähigkeiten und die Lebenskraft werden früh geschwächt: Alle Kinder kommen mit dem ungebrochenen Willen auf die Welt, mutig ihr Umfeld zu erkunden, aus sich selbst heraus zu lernen und zu erfahren. Geschützt werden sie, nachdem sie den Mutterleib verlassen haben, immer noch durch die Enge Bindung an die Mutter, werden sie doch von ihr versorgt, getragen, umsorgt und in engem Körperkontakt ständig schützend umgeben. Fällt die schützende Hülle der Mutter (entweder durch frühe Trennung oder weil sie nicht dazu in der Lage ist) weg und kommen dann noch Umstände hinzu wie Hunger, Schmerz, Angst, Ablehnung, Armut, Mangel, wird zum einen die Lebenskraft eines Kindes schon in frühem Stadium geschwächt und der dem Kind innewohnende Mut, die Welt zur erkunden schwindet dramatisch. Macht das Kind nur schmerzliche Erfahrungen in seinem natürlichen Drang, die Welt zu erforschen und zu erkunden, wird es bald nur noch mit Vorsicht und Zweifeln seine Umwelt erkunden wollen.
Der Wille, in die Welt einzugreifen wird geschwächt: Das ist einfach zu verstehen, wenn wir uns vor Augen führen, dass viele Adoptivkinder nicht nur einmal, sondern häufig die Erfahrung gemacht, als kleines hilfloses Baby Hunger verspürt haben, geschrieben haben und keiner kam, um den Hunger zu stillen. Vor allem wenn sie in einer von Armut und Mangel geprägten Umwelt lebten. Fast automatisch bekommen diese Kinder das Gefühl, das ihr Eingreifen in die Welt, das Schreien, keinen Sinn hat. Sie verlieren ihren Antrieb und ihre Energie, dass sie in dieser Welt etwas bewegen können.
Das Trauma an sich schwächt:
- Die allgegenwärtige Bedrohung überleben: Wird die traumatische Erfahrung nicht bis in die Tiefen des Unterbewusstseins abgespalten, so bleibt bei den Kindern ein Gefühl der permanenten Bedrohung zurück. In jeder Situation könnten sie wieder diese schmerzliche und verletzende Erfahrung machen. So sind sie dauerhaft in Alarmbereitschaft, da sie ständig damit rechnen, wieder verletzt zu werden. Sie sind ständig in Habachtstellung, um einer vermeidlich neuen Gefahr begegnen zu können und sich zu schützen. Sie haben permanent das Gefühl, all ihre Kräfte mobilisieren zu müssen, um die Gefahr für ihr Leben bannen zu müssen. Alltägliche Situationen wie das Händewaschen können allein schon so ein Gefühl triggern. Aus dem Nichts heraus tobt dann das Adoptivkind, so wie wir es bei Maxim so oft erlebt haben. Er empfand in diesen Momenten eine lebensgefährliche Bedrohung und tat das, was wir alle in solch einem Moment tun würden: Kämpfen. Und zwar um sein Überleben.
- Die Kräfteraubende Verdrängung des Erlebten: Für viele Kinder ist das erlebte Trauma – und allein die Trennung von der leiblichen Mutter ist eine traumatische Erfahrung – so schmerzhaft, dass sie es in die Tiefen ihres Unterbewusstseins verdrängen. Doch meist strebt das Trauma immer wieder an die Oberfläche des Bewusstsein, um dort vielleicht aufgelöst zu werden. Dieses Gefühl ist so Angsteinflößend, dass diese Kinder alle ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte einsetzen, um das traumatische Erlebnis zurück in das Unterbewusste zu verbannen. Viele der Kinder mit traumatischen Erlebnissen dissoziieren daher immer wieder in Situationen, die sie an das traumatische Erlebnis erinnern. Es ist als würden sie aus ihrem Körper aussteigen. Maxim tat dies zum Beispiel in der Schule immer dann, wenn es im Unterricht zu laut war und seine Lehrerin anfing, in all dem Chaos – was eine unheimliche Geräuschkulisse bei über 30 Kindern mit sich brachte – herumzubrüllen. An was ihn das konkret erinnerte, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich kann nur vermuten, ob es eine chaotische Situation in seiner leiblichen Familie war, wenn sich seine Eltern stritten oder Situationen im Kinderheim, wenn nicht genügend Erzieherinnen da waren, um alle Kinder entsprechend zu versorgen. Maxim zog sich dann in sein tiefstes Inneres zurück und bekam nichts mehr von der Außenwelt mit. Einmal beobachtete ich so eine Situation in seiner Klasse. Maxims Klassenkameraden gingen über Tische und Bänke. Die Lehrerin versuchte verzweifelt, Ruhe in die Klasse zu bringen. Mein Sohn saß auf seinem Platz, drehte versonnen ein Schneeglöckchen in der Hand und schaute verträumt ins Leere. In diesem Moment war er ganz weit weg und ganz wo anders. Von dem Chaos in der Klasse bekam er nichts mit.
- Die Angst, auf der Welt nicht erwünscht zu sein: Eine Adoptivmutter erzählte mir einmal, dass in dem südamerikanischen Land, aus dem ihre Tochter kam, man von Adoptivkindern als den hijos abandonados sprach, den weggegebenen Kindern. Und ja, so viele Gründe es gibt, der leiblichen Mutter wohlwollend gegenüber zustehen, eins bleibt: Die meisten Adoptivkinder wurden weggeben, wenn auch vielleicht im Glauben auf ein besseres Leben. Oder sie wurden der leiblichen Mutter entzogen, und auch wenn dies in besten Gedanken passierte, so bleibt, dass sie sich nicht gut um ihr Kind kümmern konnte. Aus der Perspektive des Kindes bleibt das Gefühl: Ich war nicht gut genug, dass meine Mutter um mich kämpfen wollte. Ich war nicht erwünscht. Das bleibt und das lässt sich auch mit noch so vielen positiven Absichten nicht wegreden.
- Die Angst, erneut ohnmächtig zu sein: Allein durch die Trennung von der leiblichen Mutter haben Adoptivkinder früh eine völlige Ohnmacht erfahren. Man hat ihnen alles genommen, was sie ausmacht, und sie konnten sich nicht dagegen wehren. Diese Ohnmacht wollen sie nie wieder erleben. Sie wollen Macht und Kontrolle um jeden Preis in ihrem Leben erhalten. Diese spüren sie, wenn immer genau das eintritt und die Menschen in ihrem Umfeld genau so reagieren, wie sie es vorher bestimmt haben. Am ehesten vorhersehbar sind für diese Kinder Reaktionen auf negatives Verhalten. Adoptivkinder spüren und wissen genau, was sie tun müssen, damit die Eltern unter die Decke gehen. Erleben sie diese Reaktion, dann fühlen sie sich sicher und glauben alles unter Kontrolle zu haben. Sie tun dies nie aus einer bösartigen Absicht heraus, sondern aus einer inneren Notwendigkeit, in ihrem kleine Seelenleben Ordnung und Kontrolle zu haben und keine Ohnmacht zu fühlen. Für Kinder mit Tendenzen zur Anstrengungsverweigerung ist dieses Verhalten zudem praktisch, denn über den Wutausbruch des Elternteils wird meist die ursprünglich eingeforderte anstrengende Tätigkeit vergessen. Es kann sich so der Anstrengung entziehen. Auch Maxim und Nadeschda zeigen noch heute solche Tendenzen. Beide haben ihre Muster, mit denen sie versuchen mich in für sie anstrengenden Situationen in den Wahnsinn zu treiben. Inzwischen habe ich diese durchschaut und versuche – nicht immer gelingt mir das – diese Verhaltensmuster zu ignorieren und einfach stur bei der Sache zu bleiben. „Nadeschda, du kannst jetzt auf dem Blatt rumkritzeln, aber wir malen danach noch ein schönes Bild. Du kannst entscheiden, wie lange wir dafür brauchen. Du darfst gerne erst Theater machen, aber dann malen wir. Oder wir malen jetzt gleich. Aber wir malen auf jeden Fall.“ Meistens gelingt mir das inzwischen, doch auch nach Jahren gibt es immer wieder Momente, wo mir dann doch die Hutschnur platzt.
Selbst wenn all diese genannten Ursachen einer „Anstrengungsverweigerung“ auf meine Kinder in der ein oder anderen Form zutreffen, so weiß ich nach all den Jahren mit Maxim und Nadeschda, dass sie sich immer weiter aus diesem Teufelskreis heraus befreien und auf einem wunderbaren Weg der Heilung sind. Das erfordert als Adoptivmutter viel enge Begleitung, unheimlich viel Struktur und sicherer verlässliche Fürsorge. Aber jeder noch so kleine Fortschritt, den Maxim und Nadeschda machen, zeigt mir, wie wertvoll dieser oft so frustrierende und kräftezehrende Weg ist. Vor allem aber sehe ich eines: Meine Kinder sind großartig und haben so unglaublich viele Ressourcen der inneren Kraft und Heilung in sich mobilisieren können, trotz aller Verletzungen, seelischer Wunden und frühen Traumatisierung.
Wer mehr zum Thema der Anstrengungsverweigerung erfahren will, findet hier alle Hinweise zu dem entsprechenden Buch „Mit den Augen eines Kindes sehen lernen. Band 2 Die Anstrengungsverweigerung“ von Bettina Bonus.
Liebe Charlotte,
das mit der Anstrengungsverweigerung kennen wir auch gut von unserer großen Tochter. Auch wir haben einen guten Weg gefunden, damit umzugehen. Und je mehr die Kinder spüren, dass die Aussage: „Wir bleiben so lange sitzen, bis du damit fertig bist.“ ernst gemeint ist, umso kürzer werden die Phasen, in denen die Anstrengungsverweigerung anhält. Sie merkt immer mehr, welche Vorteile es hat, die Aufgaben gleich zu erledigen, denn dann bleibt umso mehr Zeit, sich mit schönen Dingen zu beschäftigen. Wir werten es als gutes Zeichen, dass unsere Tochter es immer besser aus eigener Kraft schafft, sich aus solchen Phasen selbst herauszureißen. Und dennoch kommen diese Phasen immer wieder und sind noch nicht ganz verschwunden.
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